In the news: Die künstlerische Hand kann zum Verhängnis werden.

In the news: Die künstlerische Hand kann zum Verhängnis werden.
In Die Neue Suedtiroler Tageszeitung, 16.08.2012

Kultur: Der Bozner Architekt und Architekturpädagoge Marjan Colletti sieht Architektur vor allem
als Kommunikation und Kultur – genau das vermisst er bei vielen seiner Kollegen. Ein Gespräch über
Häuslbauen, warum Architektur ohne digitale Werkzeuge nicht mehr denkbar ist, seinen Pavillon
für die Olympischen Spiele in London und die Südtiroler Architektur

Interview: Heinrich Schwazer



































































Tageszeitung: Herr Colletti, Sie sind Architekt, vor allem aber in der experimentellen Architekturforschung tätig. Was darf man sich darunter vorstellen, geht es dabei überhaupt noch um Bauen?

Marjan Colletti: Architektur ist eine weitläufige Disziplin, mit flexiblen, dynamischen und verwischten Grenzen. Bauen gehört natürlich dazu (z.B. Prototypenherstellung), würde ich aber eher als angewandte Forschung sehen. Wenn man Architektur nicht nur als Baugewerbe versteht, muss man diese Grenzen neu definieren. Das ist die Hauptaufgabe der Experimentellen Forschung und Theorie. Aber auch eine riskante Angelegenheit. Experiment kommt ja aus dem Lateinischen ex-periri [versuchen, erproben], und periri ist mit periculum [Gefahr, Risiko] verwandt, hat aber auch griechische Wurzeln πεῖραν  [Erfahrung, Test]. Experimentelle Forschung verstehe ich dementsprechend. Hier fällt mir ein Statement von Regisseur James Cameron ein: „Kein wichtiges Unterfangen, welches Innovation voraussetzte, konnte ohne Risiko angegangen werden. [...] Scheitern ist eine Option, Furcht aber nicht!“ Das versuche ich auch in meinen Büchern mitzuteilen.


Was versuchen Sie, Ihren Studenten beizubringen?

MC: Mein Anliegen als Architekturpädagoge ist es, den StudentInnen klarzumachen, dass Architektur vor allem Kommunikation und Kultur ist – und deren Synthese. ArchitektInnen sollten die Kultur des Kommunizierens mehr pflegen: also die Inhalte deutlicher an sich selbst, an KollegInnen, LehrerInnen, PolitikerInnen, JournalistInnen, BauarbeiterInnen weitergeben. Deshalb ist eine theoretische Auseinandersetzung mit Architektur sehr wichtig. Hingegen laufen wir ArchitektInnen die Gefahr, das Kommunizieren von Kultur zu vernachlässigen. Architektur will Kultur produzieren. Da spielt Forschung eine wichtige Rolle. Das Häuslbauen ist in diesem Sinne drittrangig. Weiters ist es mir sehr wichtig, dass ich den StudentInnen die Mittel und den Mut gebe, Architektur als offen und dynamisch zu verstehen. Wer dies nicht schafft, versteckt sich hinter sture und geschlossene Kisten.


In Ihren Forschungen geht es um Wechselwirkungen zwischen analogen und digitalen Prozessen, mit denen die Möglichkeiten der Architektur erweitert werden sollen. Wie weit ist man in dieser Entwicklung?

MC: Ich bediene mich etlicher Technologien, v.a. 3D und 4D CAD Programme und gescriptete tools, Rapid Prototyping Maschinerie, CAD/CAM (Computer Aided Design und Computer Aided Manufacturing) Technologien, d.h. Laserschneiden, Wasserstrahlen, CNC (Computer numerisch gesteuerte) Fräsen, oder Thermoformen. Gerade habe ich für mein Institut an der Universität Innsbruck drei Industrieroboter bestellt – damit wollen wir automatisierte robotische Verfahren in der Architektur erforschen. Die digitale Entwicklung ist weit genug fortgeschritten (man überlege nur wie stark solche Technologien z.B. die Kommunikationsfähigkeiten vervielfacht haben) dass wir eigentlich schon von einer postdigitalen Ära und von Neo-Materialismus sprechen sollten: die virtuellen Media-Zeiten und die cyber worlds sind Vergangenheit. Unser Alltag ist von wirklichen Digitalwelten durchzogen: das Handy, das Netz, social networks, Designerartikel die natürlich total digital entworfen und fabriziert wurden, Systeme die Flugzeuge nicht zum abstürzen bringen, das Hi-Tech Equipment im Krankenhaus, Ihr Urlaubsticket, Bankkonto und Sozialversicherung...


3D- und 4D-cad-Programme werden in der Architektur seit langem eingesetzt. Das hat Vieles vereinfacht, aber auch grundlegend verändert. Wie anders denkt ein „digitaler Architekt“?

MC: Anders. Und anders anders. Wir denken nicht alle gleich: viele sehr technokratisch, andere eher virtuell, manche auch humanistischer. CAD Programme haben zunächst eine nun jahrzehntelange theoretische Debatte über Architektur initiiert: wie kann anders entworfen werden und warum? Erst jetzt ist es wirklich dazu gekommen, dass man sich sinnvoll die Fragen stellen kann wie man anders bauen kann; denn die Industrie kann jetzt auch mitziehen. Ganz konkret erhöht CAD die Fähigkeiten, anhand einer erweiterten und augmentierten architektonischen Zeichnung, Komplexität zu verwalten und zu verarbeiten. Man denke an programmierbare codes und scripts, oder an Building Information Modelling (BIM), wo alles anhand eines digitalen Modells gesteuert wird. Dadurch erhalten ArchitektInnen wiederum mehr Kompetenz und Übersicht über ein Projekt.


Greifen Sie beim Entwerfen noch zum Zeichenstift oder ist das jahrhundertealte Bild des zeichnenden Architekten überholt?

MC: Natürlich greife ich nicht mehr zum Zeichenstift! Ich schau mir StudentInnen Skizzen auch nicht an. Im Restaurant auf Servietten skizzierende rauchende Boheme ArchitektInnen sind eine vom Aussterben bedrohte Art (man sollte sie deshalb auch schützen). Die künstlerische, talentierte Hand kann oft zum Verhängnis werden – es besteht Wiederholungsgefahr. Nein: ich skizziere direkt dreidimensional in den Computer (Musiker machen dies wohl genauso: sie greifen zum Instrument; so eigenartig ist es also nicht). Erstens kann ich mich somit am besten ausdrücken, zweitens erhalte ich manipulierbare und gemeinsam benutzbare Dateien, die sofort weiterverarbeitet werden können. Ich schalte mich also direkt in einen Ablauf ein. Wiederholung wird Reproduzierbarkeit. Heutzutage sind ArchitektInnen meiner Meinung nach wiederum DemiurgInnen: sie können neue Welten erfinden aber auch selbst fabrizieren.


Ist zeitgenössische Architektur ohne digitale Werkzeuge gar nicht möglich oder denkbar?

MC: Das hängt davon ab, was man unter zeitgenössisch versteht. Ich würde sagen: nein, sie ist ohne digitale Werkzeuge nicht mehr – wie Sie richtig sagen – denkbar.


Gegen die bedauernswerte Einfallslosigkeit und Einförmigkeit vieler Gebäude scheinen auch virtuelle Darstellungen nicht zu helfen. Tragen die digitalen Werkzeuge eine Mitschuld an dieser Ödnis vieler Bauten?

MC: Nein! Digital ist viel mehr als virtuelle Darstellungsmethoden. Ganz  im Gegenteil. Die Problematik liegt daran, dass man sich nicht über die Kiste getraut. Ob die KundInnen oder die ArchitektInnen daran Schuld sind? Ich tendiere dazu, dies den ArchitektInnen in die Schuhe zu schieben. Schlechte Ausbildung, wenig Sensibilität oder einfach Provinzialität (auch in Metropolen).


Für die Olympischen Spiele in London haben Sie einen Pavillon mit einer zweifach gebogenen und durchlöcherten Struktur geplant und gebaut. Wie lautete der Auftrag?

MC: Im Januar hat die Greater London Authority, die Regierungsbehörde für London, einen geladenen Wettbewerb unter Londons führenden Architekturschulen ausgeschrieben. Der Auftrag lautete, innerhalb des ‘Look and Celebrations’ Programms angesichts der London 2012 Olympischen und Paralympischen Spiele einen temporären Pavillon zu entwerfen. Wir (marcosandmarjan)  haben den Alga(e)zebo eingereicht, eine experimentelle Neuinterpretation der klassischen englischen Gartenlaube, mit ‘digitaler Natur’: also eingesetzten Photobioreaktoren. Es sollte romantisch, aber auch high-tech wirken, leicht und ornamental aber zugleich komplex und anspruchsvoll.


Ist dieser Entwurf ein Ergebnis Ihrer Forschungen?

MC: Ja. Wir beschäftigen uns seit längerem mit dem Potenzial digitaler Ornamentik und CNC Fabrikationsverfahren. Der Pavillon konnte nur von den besten Tragwerksplanern und Stahlkaltverformern berechnet und fertiggestellt werden. Es war sehr spannend mit solchen Profis zusammenzuarbeiten. Es wurde an einer 3D Datei gearbeitet, die dann von Architekten, Ingenieuren und Herstellern verwendet wurde. Aufgrund der Doppelkrümmung und der Durchlöcherung ist das Projekt an die Grenzen dieser Technologie gestossen. Die Photobioreaktoren wurden aus bildungserzieherischen Gründen eingesetzt: sie sollen zeigen wie Natur auf die Umgebung reagiert, und wie sehr wir davon abhängen. Der Gazebo ist mit beiden eng verbunden, mit der klassischen Natur, und der artifiziellen Natur 2.0. Wobei jeder Park artifizielle Natur ist.


Südtiroler Architektur hat in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit erfahren. Wie sehen Sie die Lobeshymnen?

MC: Ich weiss, dass es sehr gutes Know-how gibt. Ich kenne die Szene wenig, aber mir kommt vor, dass es wenig Mut, Neugier und Einfallsreichtum gibt. Um Mr. Cameron fertig zu zitieren – er sagt auch: „Neugierde ist die leistungsfähigste Sache, die man besitzt. Fantasie ist eine Kraft die tatsächlich Realität offenbaren kann.” Vielleicht sollten Sie ihn interviewen ...


Letzte Frage: Es gibt starke Ressentiments, was zeitgenössische und experimentelle Architektur angeht. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

MC: Es gibt leider auch sehr viele sehr schlechte zeitgenössische Bauten. Ob die auch Architektur sind, ist eine andere Frage. Ich glaube die Ressentiments entstehen dadurch, dass es eben, wie ich schon erwähnt habe, an den Kommunikationsfähigkeiten und dem Kulturwillen der ArchitektInnen hapert. Das Problem mit der Akzeptanz für experimentelle Architektur ist ein anderes: nicht alle haben ein trainiertes Auge, oder das theoretische oder ästhetische Verständnis sie zu verstehen. Mit „alle“ meine ich auch die Fachleute. Abwarten. Was vor 20 Jahren als hässlich und unverständlich plakatiert wurde, ist jetzt sexy und trendy. Architektur ist eben nicht Entertainment, wo oberflächliche Meinungen zählen (oder zumindest gezählt werden) da sie ja letztlich für die Kinotickets zahlen und Geld generieren. In der Architektur muss man Eintritt meistens nur für Museen und Kirchen bezahlen. Das sind auch die Typologien, die mich am meisten interessieren und ich am liebsten bauen würde.




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Marjan Colletti

Marjan Colletti, geboren 1972 in Bozen, arbeitet als Architekt, unterrichtet, schreibt und forscht, und ist Mitgründer und Partner bei „marcosandmarjan” London (mit Marcos Cruz). 1997 schloss er sein Architekturstudium mit Auszeichnung an der Universität Innsbruck bei Volker Giencke ab. Im Anschluss daran absolvierte er mit Auszeichnung das Master-Studium „Architectural Design“  bei Prof. Sir Peter Cook (Archigram) und die Doktorarbeit  (PhD) an der Bartlett School of Architecture UCL. Marjan Colletti unterrichtet seit 2000 an der Bartlett School of Architecture UCL in London und ist seit 2012 Professor am Institut für Experimentelle Architektur.Hochbau der Universität Innsbruck, war Dozent an der Westminster University in London, hatte einen Lehrauftrag am Royal College of Art London, hat Workshops in Taiwan, Oslo, Paris und Kopenhagen geleitet und war zuletzt Gastprofessor an der TU Wien, UCLA in Los Angeles, und der UT Arlington Texas.